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RC201,6 ""'IVA/I
A1B55
1901*
STANFORD
LIBRARIES
)as erste Auftreten der Syphilis
(Lustseuche)
, in der europäischen Kulturwelt.
Qewürdigt in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung, dar-
tstellt nach Anfang, Verlauf und voraussichtlichem Ende.
Vortrag
gehallen in der Slaatswissenschaftllchen Vereinigung zu Berlin
am 12. November 1Q03
Dr. med. Iwan Bloch
Arzl in Berlin.
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Verlag von Gustav Fischer in Jena.
1004.
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; Auftreten der Syphifis
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■ avopäisdhen Kutturwelt.
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Vortrag
rSla&wi$s«ii5chaftl>di«n VcrantguUK <u BerHit
«R li November 1903
iDr. med. Iwan Bloch
Am in 6«r<in.
; von Ouslav Fischer in Ji'ii;i.
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VERLAG VON GUSTAV FISCHER IN JENA.
Der Urspruna der Sypbilis« ShS'Ztrl^^X
Dr. med. Iwan Bloch in BerKn. Erste Abteilung. 1901. Preis: 6 Mark.
Urteile der Presse über dieses Werk.
Wiener Medizinische Wochenschrift Nr. 21, 1902:
Das vorliegende Werk des jungen Berliner Syphilidologen rechtfertigt die
Spannung, mit der man in eingeweihten Kreisen dem Ergebnis seiner sorgsamen und
mühevollen Studien entgegenblickte, in ganz ungewöhnlichem Ausmaße I Das Buch
bedeutet für die Fachwelt ein Ereignis und wird wie kaum ein anderes den Sinn für
medizinisch-historische Literatur in weite ICreise tragen. Man braucht nur wenige
Seiten zu lesen und fühlt sich so sehr gefesselt durch das begeisternde Pathos eines wirk-
lichen Wahrheitsforschers, durch die packende Kraft fast künstlerischer Darstelluags-
gäbe, durch den Reichtum weitblickender Gedanken, dass man sich von dem Buche
nicht trennen kann, bevor es zu Ende gelesen ist. Und was mehr ist, es zeigt durch
den überquellenden Schatz seines positiven Inhaltes, dass man sehr gelehrt, sehr gründ-
lich sein kann, ohne ledern werden zu müssen, daß man ein engumschriebenes Thema
bis in die tiefsten Tiefen zu erschöpfen vermag, ohne den Blick fürs ganze einzu-
büßen, In diesem Buche spricht ein wirklicher Historiker zum Leser, nicht bloss ein
Archivar I Auf breiter kulturgeschichtlicher Basis, mit Berücksichtigung aller möglichen,
scheinbar weitabliegenden Momente , mit der Gabe des Sehers , der das Ineinander-
weben aller Faktoren einer Zeitperiode überblickt, wird die alte Streitfrage behandelt,
ob die Lustseuche bei allen Völkern seit den ältesten Zeiten verbreitet war oder für
die alte Welt eine neue, aus Amerika erst eingeschleppte Krankheit bedeutet. Der
Verfasser gelangte auf Grund der Ueberprüfung der von den Vertretern der ,, Alter-
tumssyphilis** aufgestapelten Dokumente und durch Heranziehung neuer oder wenig be-
rücksichtigter Quellen zum Schlüsse, daß die Verteidiger des amerikanischen Ursprungs
der Syphilis, zu denen derzeit bekanntlich Binz, Liebermeister, Seier und Unna
zählen, im Rechte sind. Niemals wurde soviel Material zusammengetragen! In dem
eben erschienenen ersten Teile bemüht sich Bloch, alle urkundlichen Argumente der
Gegner zu entkräften, was ihm oft schlagend gelingt. Der zweite, hoffentlich bald
erscheinende Teil des Werkes soll die üblichen Deutungen von Krankheitsschilderungen
der Alten als Lues kritisch beleuchten. Auf Einzelheilen hier einzugehen , würde zu
weit führen, ohne daß es gelänge, den schwächsten Abglanz der erstaunlichen Leistung
des ganz imgewöhnlich belesenen Autors zu gehen. An diesem Buche kann kein
Denkender achtlos vorüber gehen, man muß es vom Anfang bis zum Ende lesen, ne'm,
studieren 1 Wir bezweifeln es, daß der Verfasser die uns längst so tief ins Bewußtsein ge-
grabene Meinung vom Bestand der Lues im Altertum so rasch, wie er hofft, überwinden wird,
zumal dieselbe ohne jedes Studium a priori dem gesunden Menschenverstand viel näher
liegt, aber wir glauben mit Bestimmtheit, daß die bisherigen Argumente in den
Grundfesten erschüttert sind. Der Kampf, den Bloch mit dem frischen
Wagemut der Jugend heraufbeschworen hat, wird kein leichter sein, denn Uebgewordene
Ueberzeugungen, für die mancher ein Stück seiner Lebensarbeit geopfert hat, gibt man
nicht ohne höchstes Widerstreben auf. Es ist jetzt Sache der Verteidiger der Alter-
tumssyphilis , zu beweisen , ob der Verfasser im Unrecht ist, hoffentlich stehen ihnen
Waffen zur Verfügung, denn der Hinweis auf die Jugendlichkeit des verwegenen
Ketzers allein wird nicht genügen. Wir leben nicht im Zeitalter des Autoritätsglaubens.
(Neuburger.)
Archiv für Kulturgeschichte, 1903, Bd. I, Heft 4:
. . . Man kann es dem Verfasser nicht absprechen, daß er mit großer Sach-
kenntnis und einer unbestechlichen Kritik an seine Aufgabe gegangen ist und daß er —
wie es zu fordern ist — neben dem Eingehen auf Details immer den Blick auf das
Ganze der Zeit gerichtet hat. Die Methodik seiner Forschung erscheint einwandsfrei
und seine Behauptungen sind bewiesei* ... (E. Heinrich.)
Fortsetzung auf Seite 3 des Umschlags^
Das erste Auftreten der Syphilis
(Lustseuche)
in der europäischen Kulturwelt.
Gewürdigt in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung, dar-
gestellt nach Anfang, Verlauf und voraussichtlichem Ende.
Vortrag
gehalten in der Staatswissenschaftlichen Vereinigung zu Berlin
am 12. November IQ03
Dr. med. Iwan Bloch
Arzt in Berlin. /
Verlag von Gustav Fischer in Jena
1904.
VEKLÄG VON GUSTAV PISCHBE I» JENA.
Hfr rirsnriitin Hit f^vDhilis.
Alle Rechte yorbehalten.
Vorwort.
Auf den folgenden Blättern ist versucht worden, in allge-
meinverständlicher Weise die Geschichte der Syphilis als einer
spezifischen Krankheit der Neuzeit zu schildern, die eben-
so der modernen Zivilisation ihr Gepräge aufdrückt wie der Aus-
satz der mittelalterlichen Epoche. Kurz und klar hoffe ich das
große Jahrhundertdrama der Syphilis vor aller Augen gestellt und
in seiner Bedeutung gewürdigt zu haben. Der Vortrag gründet
sich durchweg auf die Ergebnisse, die ich im ersten Bande meines
größeren Werkes „Der Ursprung der Syphilis**, eine medizinische
und kulturgeschichtliche Untersuchung (Jena, Verlag von Gustav
Fischer, 1901) niedergelegt habe, wo also der sich dafür Inter-
essierende die ausführliche kritische und quellenmäßig belegte
Darstellung der hier nur kurz entwickelten Ideen findet. Bei der
willkommenen und segensreichen Teilnahme auch des nichtärzt-
lichen, gebildeten Publikums an den durch die große Verbreitung
der venerischen Krankheiten Jedem nahegelegten Fragen, welche
Teilnahme ja bei der Bildung der „Deutschen Gesellschaft zur
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten" in so erfreulicher Weise
zum Ausdrucke kam, dürfte auch die Veröffentlichung des folgen-
den in der hiesigen „Staatswissenschaftlichen Vereinigung" ge-
haltenen Vortrages weitere Kreise interessieren.
Berlin, den 16. November 1903.
Dr. Iwan Bloch.
lLs bedarf wohl in unserer Zeit, wo sich innerhalb der Heil-
kunde ein eigenes, den Beziehungen zwischen Gesellschaft und
Medizin gewidmetes Gebiet unter dem Namen der sogenannten
„sozialen Medizin" abgegliedert hat, kaum' einer näheren Be-
gründung und Rechtfertigung, weshalb ich in diesem Kreise das
angekündigte Thema zum Gegenstand eines Vortrages mache.
Um zu beweisen, wie sehr die Krankheiten ein staatswissenschaft-
liches Interesse beanspruchen können, wie nahe sie große und
bedeutungsvolle Probleme des Völkerlebens berühren, ist es nicht
nötig, in allgemeiner Weise etwa auf die metaphysische Bedeutung
derselben im menschlichen Leben zurückzugreifen und daraus
etwa wie Schopenhauer den Hauptbeweis für eine pessimistische
Auffassung des Daseins abzuleiten oder im entgegengesetzten
Sinne mit Nietzsche eine positive Förderung der individuellen
und sozialen Entwickelung zu entnehmen, sondern man braucht
nur die von Paracelsus zuerst scharf formulierte Erkenntnis ins
rechte Licht zu setzen, daß Krankheit nur eine andere Form
des Lebens ist, ein Leben unter veränderten, abnormen Be-
dingungen, welches nicht wie etwas ganz Heterogenes dem „ge-
sunden" Leben gegenübertritt, sondern zuletzt durch eine fast
unmerkbare Grenzlinie mit diesem sich berührt und zusammen-
hängt. Man hat in diesem Sinne die Krankheit treffend die
Außenlinie der Gesundheit genannt
Bei einer solchen rein biologischen Auflassung der Krank-
heiten, wie sie in den letzten hundert Jahren vor allem durch
— 6 —
John Hunter mit seiner großartigen Idee einer „Wissenschaft
des Abnormen", einer induktiven Erforschung der Bedeutung der
Krankheiten im großen Ganzen der Natur, sowie durch Virchows
Zellularpathologie begründet worden ist, stellen sich die Krank-
heiten als innig verschlungen mit allen Gestaltungen und Äuße-
rungen des Lebens dar. Die großen Gesetze dieses Lebens gelten
auch für sie. Wir wissen längst, daß der Traum des Hesiod in den
„Werken und Tagen" von einer Zeit, wo es keinerlei Krankheit
gab, ebensowenig zutrifft, wie jene andere ebenfalls geäußerte
Vorstellung, daß vor dem Sündenfall die Erde ohne Giftpflanzen,
die Rose ohne Dornen und der Mensch ein so ideales Wesen,
als welches er z. B. in den mystischen Visionen der Bourignon
erscheint, gewesen sei. Schon die ältesten Gemeinschaften des Men-
schen haben Krankheiten verschiedener Art erduldet, wie die an den
prähistorischen Knochenfunden festgestellten pathologischen Ver-
änderungen deutlich beweisen. Aber wie das Leben, so muß auch
die Krankheit einen Anfang gehabt haben. Auch die Krank-
heiten haben ihre Entwicklung, die bestimmten Gesetzen unter-
liegt, wenn wir auch häufig nicht imstande sind, eine exakte Dar-
stellung und Ursachenlehre derselben zu geben.
Insbesondere gilt dies für die großen Volkskrankheiten,
für die sich stets eine zeitliche und örtliche Entstehung nach-
weisen läßt, die mit dem kulturellen und sozialen Leben der je-
weiligen Epoche innig zusammenhängt und ihrerseits auf das
letztere erheblichen Einfluß zu gewinnen imstande ist. Wie die
politischen und wirtschaftlichen Katastrophen können auch die
großen Volksseuchen eine eingreifende Bedeutung für den Zu-
stand der Gesellschaft erlangen, und das um so mehr, als sie oft
nicht, wie jene ersteren, lokal beschränkt wird, sondern rasch über
große Teile der Erde sich ausbreiten. Mit gutem Recht sagt
Lamm er t in seiner „Geschichte der Seuchen zur Zeit des dreißig-
jährigen Krieges**: „Die Annalen der Leiden eines Volkes sind
mit denen seiner Kulturgeschichte innig verwoben; was uns in
jenen berichtet wird, das hängt eng zusammen mit den wechseln-
den Gestaltungen des politischen und sozialen Lebens. Mit der
— 7 —
Geschichte der Volkskrankheiten finden wir einen gar inhaltr
schweren, interessanten Band der großen allgemeinen Weltge-
schichte aufgeschlagen, dessen Bedeutung und Tragweite im all-
gemeinen mehr Beachtung und Würdigung verdient"
Wohl keine Krankheit bestätigt in Hinsicht auf ihre Ge-
schichte die Richtigkeit dieses Ausspruches in reicherem Maße
als die Syphilis oder die Lustseuche, da ihr Anfang, ihre Aus-
breitung und hoffentlich auch ihr Ende deutlich vor aller Augen
liegen, da sie eine echte Krankheit der Neuzeit, der modernen
europäischen Kultur ist, in welch letztere sie vor vierhundert
Jahren plötzlich vernichtend hereinbrach. Die Syphilis hat für
die europäische Kulturwelt einen Anfang, Voltaires ironisches
Wort im „Candide" von einer wissenschaftlich erforschbaren
„Genealogie** der Lustseuche ist Wahrheit. Alle Vorbedingungen
sind gegeben, um dieses am Ende des 15. Jahrhunderts, an der
Schwelle der Neuzeit, plötzlich auftauchende Phänomen historisch
zu erfassen und es in seinen Wirkungen auf die europäische
Kultur bis auf den heutigen Tag zu verfolgen. Setzt man jedes
Jahrhundert gleich dem Akte eines Dramas, so sind von diesem
Drama vier Akte gespielt worden. Wir befinden uns im Anfang
des fünften, hoffentlich des letzten, was keineswegs, wie wir sehen
iverden, ein Utopie zu sein braucht.
Es sind über das Erscheinen der Syphilis in der alten Welt,
über ihre Herkunft, ihr angebliches Altertum, ihre Wesenseinheit
mit anderen Krankheiten, z. B. dem Aussatz, ganze Bibliotheken
geschrieben, die absurdesten Hypothesen und Theorien aufge-
stellt worden. Der Geschichtsforscher muß sich durch einen
wahren Wust von Irrtümern, abergläubischen Ideen, phantastischen
Vorstellungen und leider auch bewußten Fälschungen hindurch-
arbeiten, um zu der hinter diesem Gestrüpp verborgenen, sehr
einfachen und einleuchtenden Wahrheit zu gelangen. Diese zu
finden, war sehr leicht. Es ist eigentlich das Ei des Columbus.
Aber den höchsten Scharfsinn, der beinahe an die Romane des
Edgar Allan Poe erinnert, die genialsten und tollsten Einfälle
hat man an die Verdunkelung dieser Wahrheit verschwendet.
— 8 —
Die Geschichtsschreibung der Syphilis stellt eine zusammenhängende
Kette menschlicher Irrtümer und menschlichen Aberglaubens dar.
Mit diesen gründlich aufzuräumen, heißt zugleich die zwei be-
rühmten Fragen Ricords: Wo hat die Syphilis angefangen?
Durch wen hat sie angefangen? endgültig beantworten.
Ich will an dieser Stelle diese Irrtümer und Fälschungen in der
Geschichtsschreibung der Syphilis nicht weiter berühren, habe dies
sehr ausführlich in meinem Werke über den „Ursprung der Syphilis*'
(bei Gustav Fischer in Jena) getan und erwähne nur kurz, daß
man die Syphilis als eine Folge der Sünde oder der Sodomie,
oder des Einflusses der Gestirne betrachtet hat, daß man sich, wie
z. B. Bodmann, nicht gescheut hat, zur Fälschung von Jahres-
zahlen zu greifen, um die Existenz der Syphilis vor dem Jahre
1493 zu erweisen. Auch der angebliche Zusammenhang mit dem
mittelalterlichen Aussatz ist von mir als völlig ausgeschlossen
nachgewiesen worden.
Nach Widerlegung aller dieser und anderer Irrtümer und
Fälschungen bleibt nur eine unbezweifelbare Tatsache übrig.
Das ist das plötzliche, die ganze europäische Welt in Schrecken
versetzende Auftreten der Syphilis in Italien, während des Feld-
zuges, den Karl VIII., König von Frankreich, in den Jahren
1494 und 1495, in Italien gegen das Königreich Neapel unter-
nahm. Die kulturgeschichtliche Bedeutung dieses Zuges, der
Frankreich in die innigste Berührung mit der Welt der Renais-
sance brachte, ist von Leopold von Ranke, Gregorovius,
Müntz und anderen Geschichtsschreibern dieser Zeit ausführlich
gewürdigt worden, und ich brauche hier nicht näher darauf ein-
zugehen.
Uns interessiert an dieser Stelle am meisten, daß mitten in
den Herrlichkeiten des sinnenfrohen italienischen Lebens, das in
so vielen Beziehungen noch an die Antike gemahnte, unter der
Armee Karls VIII. sich plötzlich eine neue fürchterliche, vorher
nie gesehene Krankheit verbreitete, die von den geheimen Teilen
ausgehend schnell den übrigen Körper befiel und in schrecken-
erregender Weise verunstaltete, ein Übel, das Ärzten und Laien
unbekannt, seinen Ursprung scheinbar jenem Zuge verdankt: die
Franzosenkrankheit, die bis in unsere Zeit dauernde Folge des
Zuges Karls VIII. nach Italien.
Die Einzelheiten dieser kriegerischen Unternehmung können
hier nicht näher besprochen werden. Nur so viel sei bemerkt,
daß sich das Heer des französischen Königs, etwa 32000 Mann,
aus Söldnern der verschiedenartigsten Völkerstämme zusammen-
setzte, darunter 6000 Schweizer, 10 000 Nordfranzosen und Nieder-
länder, 5000 Gascogner und Bewohner der pyrenäischen Pro-
vinzen. Auch zahlreiche Spanier waren in diesem Heere,
welcher Umstand besonders wichtig ist Endlich begleitete den
Zug nach der Sitte oder vielmehr Unsitte der Zeit ein Troß von
800 Weibern, darunter 500 Prostituierte niedersten Ranges.
Mit diesem Heere überschritt König Karl VIII. am i. Sep-
tember 1494 die italienische Grenze. Bereits am 8. September
bestand eine Abteilung desselben unter dem Herzog von Orleans
ein heftiges Treffen mit dem aus 3000 Neapolitanern und Spaniern
zusammengesetzten feindlichen Heere bei Rapallo, in der Nähe
von Genua. Nach siegreicher Abwehrung des Feindes konnte
der Zug durch Italien ungehindert fortgesetzt werden, wobei es
zu einem höchst intimen Verkehre der französischen Söldner mit
den inländischen Frauen und Freudenmädchen kam, wie sich
beinahe für jede Stadt aus den gleichzeitigen Berichten nachweisen
läßt Am 17. November 1494 erfolgte der Einzug in Florenz
und am letzten Tage dieses Jahres betrat die französische Armee
die ewige Stadt. Karl verweilte volle vier Wochen in Rom,
wo alsbald seine Soldaten sich den gröbsten Ausschweifungen
ergaben. Damals wimmelte Rom von Prostituierten, in- und aus-
ländischen. Besonders die spanischen Courtisanen wählten Rom
unter der Herrschaft des berüchtigten Alexander VI. als Schau-
platz ihrer Tätigkeit Wenig später zählte der spanische Schrift-
steller Delicado gegen 14000 spanische Prostituierte in Rom.
Von Rom brach König Karl endlich am 28. Januar 1495
nach Neapel auf und zog am 22. Februar, 4 Uhr nachmittags,
durch die Porta Capuana in Neapel ein, wo ein überaus be-
— lO —
geisterter Empfang, namentlich von selten der weiblichen Be-
völkerung, den Soldaten zuteil wurde, die sich schon am ersten
Tage nach dem Berichte der Chroniken in Trinkgelagen und
venerischen Exzessen nicht genug tun konnten. So wie dieser
erste Tag verliefen alle achtzig folgenden, die Karl VIII. mit
seinem Heere in Neapel zubrachte, in einem beständigen Rausche
sinnlicher Genüsse der verschiedensten Art. Für diesen neapoli-
tanischen Aufenthalt ist auch noch die Tatsache wichtig, daß die
spanische Besatzung der Vorstadt Castelnuovo nach dreiwöchent-
licher Belagerung sich ergab und zum Teil mit dem Heere
Karls VIII. sich vereinigte.
Ende Mai 1495 jedoch mußte Karl beim Herannahen einer
spanischen Armee unter Gonsalvo de Cordoba Neapel ver-
lassen, wo er 6000 Mann unter d'Aubigny zurückließ. Er zog
sich über Siena und Pisa zurück, erzwang sich in der Schlacht
bei Fornuovo am 6. Juli 1495 S^S^^ ^'^ Venetianer den weiteren
Durchmarsch, während zu gleicher Zeit die Spanier Neapel wieder
eroberten und König Ferdinand ein kleines Armeekorps in die
pyrenäischen Provinzen Frankreichs sandte. Karl hielt sich dann
von Ende Juli bis Oktober 1495 in Turin auf, wohin auch die
in Neapel zurückgebliebenen Schweizer kamen, und war dann am
7. November wieder in Lyon. Der größte Teil seiner Truppen
hatte sich schon beim Verlassen Italiens nach allen Richtungen
hin zerstreut.
Diese äußeren, hier nur ganz kurz skizzierten Verhältnisse,
unter welchen der berühmte Zug Karls VIII. verlief, mußten
in ganz besonderem Maße die schnelle Verbreitung einer wesent-
lich auf dem geschlechtlichen Wege erworbenen Krankheit be-
günstigen. Es ist deshalb kein bloßer Zufall, daß gerade während
des Aufenthaltes des französischen Heeres die Syphilis zuerst
jene erschreckliche Verbreitung in einem explosionsartigen Aus-
— II —
bruch erlangte, welcher die Welt so plötzlich überraschte. Mehrere
Söldnerheere von bedeutender Stärke versammeln sich in Itahen
und treten miteinander in Berührung. Sie werden gebildet von
einer zuchtlosen Soldateska aus aller Herren Ländern» die, begleitet
von einem ungeheuren Troß von Lustmädchen, sich den wildesten
sinnlichen Ausschweifungen ergibt. Es findet ein beständiger
Austausch von Überläufern männlichen und weiblichen Greschlechts
zwischen den verschiedenen Armeen statt, und schließlich zer-
streuen sich die Soldaten des französischen Heeres nach allen
Seiten Daß unter diesen Umständen eine Krankheit wie die
Syiphlis binnen kurzer Zeit eine die Welt mit Schrecken erfüllende
Verbreitung erlangen mußte, liegt auf der Hand.
Und es kann nun, um endlich zum eigentlichen Thema zu
kommen, gar kein Zweifel darüber bestehen, daß die Syphilis
sich der europäischen Welt zuerst bemerkbar machte, als die
Franzosen unter Karl VIIL sich in Italien aufhielten.
Diese allgemeine Zeitbestimmung des ersten Auftretens der
Syphilis in epidemischer Verbreitung wird von den gleichzeitigen
Chronisten und ärztlichen Schriftstellern der verschiedensten Länder
übereinstimmend angegeben. Und zwar geschah dieses nach
dem Bericht der großen Mehrzahl der Zeitgenossen während des
Aufenthaltes der französischen Armee in Neapel, also zwischen
Februar und Mai 1495. Wie ich in einer ausführlichen kritischen
Untersuchung nachgewiesen habe, stimmen die zeitgenössischen
Berichte darin überein, daß sie eine Einschleppung der Krank-
heit von außen her als ganz gewiß hinstellen und diese deutlich
den Spaniern zur Last legen. Es läßt sich dann an der Hand
der italienischen Städtechroniken der Siegeszug der Syphilis in
Italien von Stadt zu Stadt verfolgen, überall werden die bekannten
Jahreszahlen 1495 bezw. 1496 angegeben. Schon im Juni 1495
war sie bis in den nördlichsten Teil der apenninischen Halbinsel,
bis an den Fuß der Alpen, an die Grenzen Frankreichs, der
Schweiz und Deutschlands vorgedrungen!
Diese Nachrichten über das erste Auftreten der Lustseuche
in Italien sind um so bedeutungsvoller, als sie durchgängig von
12
Zeitgenossen herrühren, die das plötzliche Hereinbrechen des Un-
heils miterlebten und gewiß zum Teil am eigenen Leibe spüren
mußten. Laien und Ärzte sind einig darüber, daß die Krankheit
bis dahin in Italien völlig unbekannt war — das berühmte, oft
zitierte Wort des genuesischen Arztes Cataneus von dem
„morbus monstrosus, nulHs ante saeculis visus totoque
in orbe terrarum incognitus" klingt überall wieder — alle
nahmen ferner an, daß das Leiden von auswärts eingeschleppt
worden sei. Eben wegen dieses geheimnisvollen plötzlichen Auf-
tauchens ufid ihrer unbekannten Natur machte die Krankheit
überall einen tiefen Eindruck und war den Menschen ein Grauen,
und es ist ein vergebliches Unternehmen moderner Syphilis-
historiker, dieses Grauen, das uns aus allen gleichzeitigen Berichten,
aus Briefen, öflFentlichen Urkunden, Reden und sonstigen Doku-
menten so tiefklagend, so herzergreifend entgegenklingt, hinweg-
disputieren zu wollen. Einst begann Hensler, obgleich fest über-
zeugt von dem Altertume der S)rphilis, sein berühmtes Werk über
die Geschichte der Lustseuche mit den Worten: „Es sind manche
Seuchen für das Menschengeschlecht um vieles verwüstender und
mördlicher gewesen als die Lustseuche, die zu Ende des XV
Jahrhunderts ausbrach; aber keine von jeher und ohne Ausnahme,
keine bösartige Seuche, keine Pest, kein schwarzer Tod hat einen
so fürchterlichen Eindruck gemacht, keine ein solches Grauen in
den Gemütern der Nachwelt hinterlassen.**
Dieses Grauen entsprang nicht nur aus der völligen Unkenntnis
der neuen Krankheit, sondern mehr noch aus dem Schrecken, wel-
chen die Heftigkeit und Bösartigkeit der Erscheinungen der
Syphilis überall verbreiteten. Alle zeitgenössischen Schriftsteller
der verschiedensten Nationen schildern uns die Krankheit in den
düstersten Farben. Diese Malignität der Lustseuche kann nach
unserer modernen Anschauungsweise über die Natur und Er-
scheinungsart der Krankheit nur dciraus erklärt werden, daß jene
Völker, die alle in gleich intensiver Weise ergriflFen wurden, bis
dahin vollkommen syphilisfrei gewesen waren. Wie will man
die damals beobachteten heftigen Krankheitserscheinungen, das
— 13 —
frühe Auftreten der sogenannten sekundären Symptome — oft
schon nach wenigen Tagen — , das hohe Fieber, die Intensität,
der Schmerzen, besonders der unerträglichen Gelenkschmerzen,
die schwere sekundäre Affektion der Haut (die sogenannten
„syphilit Pocken**), den oft so schnell eintretenden körperlichen
Verfall und endlich die unzweifelhafte Häufigkeit der Todesfälle
anders erklären? Wie hätte eine angeblich uralte Plage des
Menschengeschlechts plötzlich mit so gesteigerter Intensität über
so zahlreiche Völker hereinbrechen können? Auch handelte es
sich nicht um eine auf bestimmte Kreise beschränkte Seuche, für
die man etwa besondere Ursachen hätte verantwortlich machen
können, sondern die am Ende des 15. Jahrhunderts auftauchende
Syphilis befiel alle Volkskreise und alle Nationen in gleichem
Maße und mit derselben Heftigkeit. Noch heute beobachten wir
überall, wo die Syphilis in bisher syphilisfreie Gegenden ein-
g'eschleppt wird, denselben akuten Verlauf, dieselbe Intensität der
Erscheinungen wie bei ihrem ersten Auftreten in Europa.
Daß damals die neue Seuche gleichmäßig alle Schichten der
Bevölkerung, alle Stände mitnahm, wird in allen zeitgenössischen
Nachrichten gemeldet. Z. B. sagt der Chronist Franciscus
Muraltus: „Da die Krankheit unbekannt war und in alten
Werken nicht beschrieben gefunden wurde, da weder von
Hippokrates, Avicenna und Galen Heilmittel für dieselbe
angegeben waren, noch sie diese Krankheit erwähnen, so tötete
dieselbe Unzählige. Die Arzte unserer Zeit wendeten nach Gut-
dünken Heilmittel an, und Päpste, Könige, Fürsten, Mark-
grafen , Feldherren, Soldaten, alle Edelleute, Kaufleute,
endlich alle, die überhaupt der Wollust fröhnten, Geistliche
aller Art wurden von jener Krankheit heimgesucht, wodurch
man die keuschen Menschen von den unkeuschen unterscheiden
konnte."
Es befiel aber die Syphilis nicht nur einzelne, sondern viele
Menschen. Pollich spricht schon 1499 von vielen Tausenden
geheilter Kranker. Bei allen Völkern der alten Welt wiederholte
sich die gleiche schnelle Ausbreitung der neuen Seuche unter
— 14 —
denselben heftigen Krankheitserscheinungen. Es wird diese un-
gewöhnliche Intensität der einzelnen Symptome von so vielen
Ärzten und Chronisten aller Länder hervorgehoben, daß es doch
nicht angeht, dieselbe zu bezweifeln, ohne anzunehmen, daß alle
zeitgenössischen Autoren in gleicher Weise übertrieben haben.
Kein Zeichen, kein Wort, keine Feder war imstande, die Leiden
der von der neuen Krankheit Ergriffenen zu schildern, wie
Summaripa, ein italienischer Arzt, sagt.
Der erste deutsche Schriftsteller, welcher ausführlich über
die Syphilis berichtet, Grunpeck, hat uns eine klassische
Schilderung des grauenhaften Zustandes der Soldaten, die in
Italien an der Syphilis erkrankt waren, hinterlassen. Diese teile
ich, zugleich als Paradigma für alle übrigen ähnlichen Schilde-
rungen, mit:
„Die Einen, sagt er, waren vom Scheitel bis zu den Knieen
mit einer zusammenhängenden, fürchterlichen schwarzen Art von
Krätze überzogen und dadurch so abschreckend, daß sie, von
allen Kameraden verlassen, sich in der Einsamkeit den Tod
wünschten; die anderen hatten diese Krätze an einzelnen Stellen,
aber härter als Baumrinde, am Vorder- und Hinterkopfe, an der
Stirne, dem Halse, der Brust, dem Gesäße, und zerrissen sich
dieselbe vor heftigem Schmerze mit den Nägeln. Die Übrigen
starrten an allen Körperteilen von einer solchen Menge von
Warzen und Pusteln, daß ihre Zahl nicht zu bestimmen war; sehr
vielen aber wuchsen im Gesichte, an den Ohren und der Nase
dicke und rauhe Pusteln, wie Zapfen oder kleine Hörner in die
Höhe, die mit pestilenzialischem Gestanke aufbrachen und hervor-
stehenden Hauern glichen."
Zahlreiche ähnliche Leidensgeschichten finden sich bei allen
zeitgenössischen Schriftstellern. Ich erinnere nur an das Martyrium
des Ulrich von Hütten. „Des Jammerns und des Winseins
war damals kein Ende" sagt selbst Hensler, der die damaligen
Erscheinungen des Syphilis ebenfalls in grellen Farben schildert.
— 15 —
Wir sind nach Einsicht in diese Tatsachen mit unabweislicher
Notwendigkeit jetzt vor die Frage geführt: Wie erklärt sich das
plötzliche Auftauchen der Syphilis in Italien? Auf welchem Wege
kam die Seuche dorthin ? Diese Fragen involvieren diejenige nach
dem eigentlichen Ursprünge, nach der ältesten Heimat der
Syphilis.
Schon die Zeitgenossen haben den wirklichen Ursprung der
Syphilis gekannt. Es kommen hier vor allem zwei Quellen in
Betracht, erstens die Berichte spanischer Autoren, die durch die
Forschungen des spanischen Militärarztes Montejo und des hiesigen
Amerikanisten Herrn Prof. Sei er zuerst genauer bekannt gewor-
den sind — zweitens die Mitteilungen italienischer Chronisten,
deren Bedeutung ich in einer quellenkritischen Untersuchung ge-
würdigt habe. Beide Quellen ergänzen sich, wie ich gezeigt habe,
in einer die ganze Frage endgültig entscheidenden Weise.
Unter den authentischen Berichten der spanischen Autoren
sind als die wichtigsten diejenigen des Diaz de Isla, Oviedo,
Las Casas, Roman Pane, Sahagun und Hernandez zu
nennen.
Ruy Diaz de Isla (geboren 1462, gestorben nach 1542) ist
wohl der allerwichtigste Zeuge überhaupt für den neueren Ursprung
der Syphilis. Er hatte beim ersten Auftreten der Syphilis in
Europa bereits das dreißigste Lebensjahr überschritten, war Arzt
und zwar ein hervorragender Arzt, und endlich — was die Haupt-
sache ist — selbst Zeuge der Einschleppung der Syphilis, die er
gewissermaßen bei ilurer Landung in Europa beobachtete.
Wir wissen, daß Diaz de Isla im Jahre 1493 in Barcelona,
später in Sevilla praktisch tätig war und zehn Jahre lang als
Chirurg am Allerheiligenspital in Lissabon wirkte, wo er sehr
reiche Erfahrungen über die Syphilis sammelte und sie in einem
besonderen Werke niederlegte, das er dem Könige Manuel von
Portugal widmete. Die älteste Niederschrift dieses Buches be-
findet sich in der Nationalbibliothek zu Madrid. Im ersten Kapitel
desselben wird der Ursprung und die Einschleppung der Syphilis
ausführlich dargestellt Dieser Bericht gibt selbsterlebte und
— i6 —
selbstbeobachtete Tatsachen wieder, und erhellt mit einem
Schlajare das Dunkel, welches über dem Ursprünge der Syphilis ruht.
Der Inhalt dieses Berichtes ist in Kürze der folgende: Die
Syphilis war vor 1493 in Europa unbekannt. Ihre Urheimat ist
Amerika, d. h. für Europa eigentlich nur die Insel Espafiola oder
Haiti, von wo die Mannschaft des Columbus sie nach der ersten
Reise desselben mitbrachte. Daher nennt Diaz de Isla die
Syphilis die Krankheit der Insel Espanola. Bei den Indianern
von Haiti hieß die Syphilis Guaynaras oder auch ,Jiipas",
„taybas" und „i^as". Der größte Teil der Mannschaft des
Columbus infizierte sich dort mit der Syphilis und kehrte krank
nach Spanien zurück. Diaz de Isla behandelte selbst in Barce-
lona mehrere syphilitische Matrosen dieses Geschwaders und er-
wähnt u. a. den Steuermann Pinzon aus Palos als einen der an
dem neuen Übel Erkrankten. Die Krankheit war den Matrosen
völlig unbekannt. Nach Ankunft des Columbus in Barcelona im
Jahre 1493 breitete sich dort die Syphilis auch unter den Ein-
wohnern aus, noch während Ferdinand der Katholische und
Isabella dort anwesend waren. Im folgenden Jahre traf Karl VIII.
von Frankreich die Vorbereitungen zu einem großen Feldzuge
und zog Söldner aus den benachbarten Ländern heran. Darunter
befanden sich auch viele mit Syphilis behaftete Spanier.
So geschah es, daß die Syphilis sich während des Aufenthaltes
des französischen Heeres in Italien weiter verbreitete und schließ-
lich bei dem Zusammenwirken so vieler eine epidemische Ver-
breitung begünstigender Umstände jene plötzliche und ungeheure
Ausbreitung erlangte, wie wir sie kennen gelernt haben.
Auf Espanola herrschte die Syphilis seit uralter Zeit. Die
Indianer besaßen schon bei der Ankunft des Columbus eine
höchst komplizierte, rationell ausgebildete und abgestufte Heil-
methode der Krankheit, deren Inhalt Diaz de Isla im Jahre 1504
aus einer Niederschrift derselben kennen lernte. Sie bestand im
wesentlichen aus einer Kur mit dem Guajak, dem Mapuan
und der Tun a in Verbindung mit hydrotherapeutischen, diätetischen
und klimatischen Behandlungsmethoden.
— 17 —
Dieser Bericht des Diaz de Isla wird vollauf bestätigt
durch die Mitteilungen des Oviedo und des Las Casas.
Oviedo, ein vornehmer Hofmann und einer voii den in dieser
Zeit häufig vorkommenden Gelehrten, die bereits in früher Jugend
eine vielseitige Bildung sich angeeignet hatten, befand sich eben-
falls zur Zeit der Rückkehr des Columbus im Jahre 1493 in
Barcelona, schloß damals Freundschaft mit den Söhnen des Ent-
deckers und zog von diesem selbst und den Gebrüdern Pinzon
sehr wertv^oUe Nachrichten über den neuen Erdteil ein. Später
verweilte er kurz nach dem Feldzuge Karls VIII. längere Zeit
in Italien und war dann zu wiederholten Malen jahrelang selbst
in der neuen Welt in Haiti und Zentralamerika. Seine Nachrichten
über die Syphilis finden sich vor allem in seiner großen Geschichte
und Naturgeschichte Westindiens und in einem Berichte, den er
im Jahre 1525 auf Befehl des Kaisers Karl V. verfaßte. Es er-
gibt sich aus diesen von mir wörtlich übersetzten Berichten die
völlige Übereinstimmung des Oviedo mit dem Diaz de Isla in
Beziehung auf den amerikanischen Ursprung der Syphilis. Oviedo
erklärt dieselbe für eine spezifische Krankheit der Antillen und
des zentralamerikanischen Kontinentes. Die Syphilis wurde nach
ihm durch die Indianerinnen den ersten Spaniern, welche mit
Columbus dorthin kamen, mitgeteilt, durch diese nach Spanien
gebracht, von wo sie alsbald gelegentlich des Feldzuges Karls VIII.
sich weiter ausbreitete. Nicht französische, nicht neapolitanische
Krankheit sei der richtige Name der Syphilis, sondern west-
indische Krankheit. Unter seinen Gewährsmännern, die er
sofort nach ihrer Rückkehr befragte, zählt Oviedo sowohl solche
auf, die die erste Reise des Columbus mitgemacht hatten, als
auch solche, die ihn auf der zweiten Reise begleitet hatten. Unter
den ersteren nennt er besonders den Steuermann VicenteYafiez
Pinzon, einen der drei Brüder Pinzon. Dies ist eine merk-
würdige und überaus wertvolle Übereinstimmung mit der Angabe
des Diaz de Isla. Denn dieser erwähnt gleichfalls einen Pinzon,
den er auf dem ersten Geschwader des Columbus in Barcelona
sah und sprach und der sich wie viele andere Teilnehmer an der
Bloch, Syphilis. 2
— i8 —
ersten Reise die Syphilis aus der neuen Welt geholt hatte. Es
ist höchst wahrscheinlich, daß dieser mit dem von Oviedo er-
wähnten Pinzon identisch ist. Auch Oviedo bemerkt ferner in
weiterer Übereinstimmung mit Diaz de Isla, daß durch den
Zug Karls VIII. die Syphilis eine besondere Ausbreitung erlangte.
Nach Oviedo befanden sich syphilitische Spanier in dem dem
Könige von Neapel zu Hülfe geschickten Heere des „gran capitan'*
Gonzalvo de Cordoba, nach Diaz de Isla im Heere Karls VIII.
selbst. Beides ist ja durchaus zutreffend und wird durch die
übrigen zeitgenössischen Berichte bestätigt.
Bemerkenswert sind noch aus dem Berichte Oviedos an
Kaiser Karl V. die Eingangsworte. Es heißt nämlich da mit
stärkster Betonung: „Eure Majestät können es für ganz sicher
halten, daß diese Krankheit aus Westindien stammt und unter
den Indianern sehr gewöhnlich, aber in jenen Gegenden nicht so
gefährlich ist wie in den unsrigen."
Oviedo hat in seinem großen Werke über Westindien be-
kanntlich versucht, im Interesse der spanischen Eroberer die grau-
same Behandlung der Eingeborenen zu rechtfertigen. Zu diesem
Zwecke, behaupten nun einige Historiker, habe er auch das
Märchen vom amerikanischen Ursprünge der Syphilis erfunden.
Aber das ist ganz hinfällig, denn der edle Las Casas, der Gegner
des Oviedo und Freund der Indianer, bezeugt gleichwohl eben-
falls ausdrücklich den amerikanischen Ursprung der Syphilis.
Er war ebenfalls ein Zeitgenosse der Einschleppung der
Syphilis,, sein Vater war sogar einer der Begleiter des Columbus
auf dessen^ zweiter Reise, und er selbst fuhr schon 1498, 24 Jahre
alt, nach Haiti, wo er nach vielen Reisen in Zentral- und Süd-
amerika später dauernden Aufenthalt nahm und seine berühmte
„Historia general de las Indias** verfaßte.
Im 19. Kapitel des 5. Bandes dieses Werkes sagt er nun
von Haiti:
„Es gab und gibt zwei Dinge auf dieser Insel, welche im
Anfang den Spaniern sehr beschwerlich waren. Das eine ist die
Krankheit der Syphilis, welche man in Italien das Franzosenübel
— 19 —
nennt. Man weiß aber mit Sicherheit, daß sie von dieser Insel
kam, entweder, als bei der Rückkehr des Admirals Don
Christobal Colon mit den Nachrichten von der Entdeckung
Westindiens die ersten Indianer kamen, welche ich selbst in
Sevilla sah, oder es waren bereits einige Spanier mit dieser
Krankheit behaftet bei der ersten Rückkehr nach Castilien.
Und da um diese Zeit der König Karl von Frankreich mit einem
großen Heere nach Italien ging, um Neapel zu erobern, und sich
jene ansteckende Krankheit unter dem Heere verbreitete, glaubten
die Italiener, daß sie von diesen Soldaten die Krankheit bekommen
hätten und nannten sie deshalb von jener Zeit an die Franzosen-
krankheit.
Ich gab mir mehrere Male die Mühe, die Indianer
dieser Insel auszufragen, ob diese Krankheit bei ihnen
sehr alt sei, und sie antworteten ja, lange vor jener Zeit, als
die Christen zu ihnen gekommen seien, ohne daß man an ihren Ur-
sprung eine Erinnerung habe, und hieran kann Niemand zweifeln.
Es ist auch eine sehr ausgemachte Sache, daß alle geschlecht-
lich ausschweifenden Spanier, welche auf dieser Insel nicht die
Tugend der Keuschheit bewahrten, von der Krankheit angesteckt
wurden, und daß von hundert nicht ein einziger ihr entging, falls
nicht das Weib gesund war".
Auch Las Casas berichtet dann über die Intensität der
Krankheitserscheinungen bei den Spaniern in Vergleichung mit
dem milden Verlaufe der Syphilis bei den Eingeborenen.
So sehen wir, daß die Berichte jener drei, so verschiedenen
Lebenssphären angehörenden und in ihren politischen Anschau-
ungen divergierenden Zeitgenossen doch übereinstimmend die
Tatsache bekunden, daß die Syphilis amerikanischen Ursprunges
ist. Und zwar war die Syphilis auf Haiti der unselige Urquell,
aus dem sich dann alsbald das Gift in solchen Strömen über
Europa und die ganze alte Welt ergoß.
Der Hieronymitenpater Roman Pane, der Columbus auf
seiner zweiten Reise begleitete, hat uns in seinem Berichte über
die Sagen, Sitten und Gebräuche der Karaiben von Haiti auch
20
den Mythus vom Nationalheros Guagagiona überliefert, der in-
folge seiner zahh-eichen Liebschaften an Syphilis erkrankt, die
deutlich beschrieben wird. Dieser göttliche Heros entbrennt dann
einmal wieder in heißer Liebe zu einem schönen Weibe, aber un-
glücklicherweise gerade in dem Augenblicke, als er, schwer von
der Syphilis heimgesucht, die hier als die wahre National-
krankheit der Haitianer dargestellt wird, am ganzen Körper
mit Geschwüren bedeckt ist. Der vielerfahrene Don Juan weiß
ganz genau, daß die von ihm Begehrte sich ihm in seinem jetzigen
Zustande nicht hingeben wird, weil sie die Folgen fürchtet: die
Ansteckung! Seine Heilung ist die conditio sine qua non
seines Liebesglückes. Schnell entschlossen beginnt er sofort die
Kur. — Es wird uns nun aufs allerdeutlichste die bekannte Syphilis-
kur der Indianer, deren auch Diaz de Isla gedenkt, beschrieben,
sie bestand im wesentlichen aus hydrotherapeutischen Proze-
duren und aus einer Schwitzkur in einem abgesonderten Raum,
ganz ähnlich wie später von Ulrich von Hütten und anderen
die Guajak- Kuren beschrieben werden.
Von größtem Interesse ist nun, und ein geradezu glänzendes
Zeugnis für den Wert dieses merkwürdigen Dokumentes der Ge-
brauch des gleichen Wortes „guanara" für Syphilis und was damit
zusammenhängt, wie wir ihn auch bei Diaz de Isla antreffen.
Letzterem konnte die erst viel später veröffentlichte Schrift des
Roman Pane nicht bekannt sein.
Die präcolumbische Existenz der Syphilis auf den Antillen
macht ohne weiteres diejenige auf dem Festlande des nahen
Zentralamerika wahrscheinlich. Und in der Tat ist uns von dem
so hochentwickelten Kulturvolke der Azteken die sicherste Kunde
darüber überliefert worden. Dank den Forschungen von Montejo
und Sei er haben wir jetzt eine kritische Verarbeitung des hier
vorliegenden Quellenmateriales zur Verfügung. Dieses ist nament-
2 1
lieh dem Franziskanerpater Bernardino de Sahagun zu ver-
danken, der kurz nach der Eroberung des Landes nach Mexiko
kam, sofort die aztekische Sprache in geradezu meisterhafter
Weise erlernte und selbst 40 Jahre lang in der Klosterschule von
Santa Cruz zu Tlatelolco die Mexikaner in der spanischen und
lateinischen Sprache unterrichtete. Letztere waren in ihrer großen
linguistischen Befähigung gewissermaßen die Russen der neuen
Welt. Bald konnten Leute, die noch kurz vorher keinen Europäer
gesehen hatten, lateinisch oder spanisch sogar Schriftstellern. Die
ersten eingeborenen Schriftsteller dieser Art wie Tezozomoc
und Chimalpahin stammten noch aus der präcolumbischen Zeit.
Sahagun unterrichtete die Azteken auch in den realen
Wissenschaften wie z. B. der Medizin. Er dagegen sammelte
während dieser Zeit das Material zu seiner großcirtigen „Historia
general de las cosas de Nueva Espana", nach Seier einer „Ency-
klopädie des altmexikanischen Wissens, so wie es von den Mexi-
kanern ausgearbeitet und von Generation zu Generation fortge-
pflanzt wurde.'* Er ließ sich alle in diesem Werke enthaltenen Mit-
teilungen von den Indianern selbst diktiren und zwar in az-
tekischer Sprache, indem er überall auf die Feststellung der
Wahrheit den größten Wert legte. So bietet uns dieses Werk ein
treues Bild altmexikanischen Lebens und altmexikanischer Kultur,
und mit Recht legt deshalb Seier gerade den Mitteilungen des
Sahagun über die Syphilis die allergrößte Bedeutung bei.
Ich habe dann noch auf einen anderen Umstand hinge-
wiesen, der gerade die Mitteilungen der Azteken über die
Syphilis so bedeutungsvoll erscheinen läßt. Bei näherer Unter-
suchung stellte sich mir nämlich die altmexikanische Medizin als
eine solche von eminent wissenschaftlichem Charakter heraus,
die ungefähr für die neue Welt dereinst das bedeutet hat, was
für die alte die griechische Medizin geleistet hat. So kannten
die aztekischen Arzte in der Chirurgie bereits die Narkose und
Wundnaht, in der Geburtshülfe die Beeinflussung des Fötus durch
die Nahrung, die Wendung, die Embryotomie, vor allem aber
pflegten sie ganz im Geiste der modernen Wissenschaft die
22 —
systematische Forschung und die wissenschaftliche Me-
thode, legten große Sammlungen von Tieren und Pflanzen zu
naturwissenschaftlichen und medizinischen Zwecken an, hatten
sogar eine Art von pathologischen Museen und zahlreiche
botanische Gärten, in denen besonders Medizinalpflanzen gehalten
wurden. Diese Gärten dienten den Ärzten zum Studium der
Heilpflanzen. Es waren dieselben ausdrücklich angewiesen, die
Wirkungen der Medizinalpflanzen bei den einzelrfen Krankheiten
in systematischer Weise zu prüfen und wissenschaftlich zu er-
forschen. Am Hofe des Königs von Michoacan befand sich so-
gar eine eigene medizinische Körperschaft, die mit dem Studium
der Heilkräfte der Pflanzen beauftragt war. Dieselbe war voll-
kommen organisiert und bestand aus den „medicos simplicistas**
unter dem Befehl eines Oberarztes und den „floristas" mit einem
„florista principal'* an der Spitze. Hernandez berichtet, das die
Tarascos von Michoacan allein gegen 300 Medizinalpflanzen kannten,
über die sie ihm Bericht erstatteten.
Das schönste Zeugnis aber für den eminent wissenschaft-
lichen Geist der mexikanischen Medizin ist die Tatsache, daß es
sogar kolorierte Pflanzen-Atlanten gab, ähnlich wie sie das
griechische Altertum in der berühmten kolorierten Materia media
des Krateuas kennt.
Die Pharmakologie, insbesondere die Lehre von den spezi-
fischen Arzneimitteln erfuhr daher bei den allen Mexikanern
eine überraschende Ausbildung. Viele ihrer Arzneimittel sind
mit denselben Indikationen auch in den europäischen Arzneischatz
übergegangen.
Am erstaunlichsten ist aber die Tatsache, daß die aztekischen
Arzte bereits eine ziemlich umfangreiche soziale Wirksamkeit
entfalteten. So wurden sie z. B. bei aillen das eheliche Leben
betreffenden Verhältnissen zu Rate gezogen, z. B. bei Bigamie.
Ferner gab es wohleingerichtete, von erfahrenen Ärzten geleitete
Hospitäler, die ähnlich den heutigen englischen Krankenhäusern
durch die Privat Wohltätigkeit der Bevölkerung erhalten wurden,
und denen die Kranken aus allen Teilen des lindes zuströmten.
— 23 —
Nach alledem wird man sich nicht wundern, daß die mexi-
kanischen Arzte auch die Syphilis in den Bereich ihrer wissen-
schaftlichen Studien einbezogen haben. Wir können uns aus den
Angaben in dem schon erwähnten Werke des Sahagun und in
der pharmakologischen Schrift des spanischen Arztes Francisco
Hernandez über die pflanzlichen, tierischen und mineralischen
Heilmittel der alten Mexikaner, das um 1570 verfaßt wurde, eine
eine ungefähre Vorstellung davon machen. Danacli unterschieden
die Azteken bereits einen schweren und leichten Verlauf der
Syphilis, indem sie ganz richtig den ersteren aus der Erscheinung
größerer Pusteln und Geschwüre auf der Haut vorhersagten,
während kleinere Pusteln auf einen leichteren Verlauf hoffen
ließen. Außerdem war ihnen der Zusammenhang zwischen der
Affektion der Genitalien, dem sogenannten Primäraffekt und dem
Hautexanthem genau bekannt. Ebenso kannten sie die An-
schwellung der Leistendrüsen, die Feigwarzen, und schließlich unter-
schieden sie deutlich die Syphilis als eine konstitutionelle d. h.
den ganzen Körper in Mitleidenschaft ziehende Erkrankung von
den bloß örtlichen Affektionen wie der Gonorrhoe u. s. w. Dieser
genauen Kenntnis der Symptome der Syphilis stand eine, wie
Sahagun und die Arzte Hernandez und Benavides bezeugen,
uralte Erfahrung in der Behandlung der Krankheit gegenüber.
Benavides tut den kurzen, aber vielsagenden Ausspruch: „Die
Eingeborenen kennen die Syphilis besser als ich." Ihre Behand-
lungsweise der Syphilis war eine innere, medikamentöse mittelst
vegetabilischer Substanzen, und eine äußere mit pflanzlichen und
mineralischen Stoffen, mit Bädern und chirurgischen Eingriffen,
und sie erzielten nach Angabe der spanischen Ärzte damit glän-
zende Erfolge.
Alle diese wichtigen Tatsachen und Beweise für die Existenz
der Syphilis auf dem Festlande von Amerika werden noch durch
zahlreiche andere unterstützt, die ich in meinem Buche genau
verzeichnet habe und auf die ich hier nicht näher eingehen will.
Der Weg der Einschleppung des Syphilis in Europa liegt
bereits durch die Berichte der spanischen Autoren klar vor Augen.
— 24 —
Spanien war das erste Land, das die Syphilis als Danaergeschenk
der neuen Welt bekam, und hier wiederum w^aren Sevilla und Bar-
celona d. h. diejenigen Orte, wo die Mannschaft des Columbus
nach ihrer Landung sich längere Zeit aufhielt, zugleich der Mittel-
punkt lokaler Syphilisepidemien, die sich von hier aus dann,
dem Zuge der Heere folgend, zunächst in Italien verbreiteten.
Wir wissen aus Dokumenten, daß in Sevilla, wohin
Columbus bei seiner Rückkehr von Palos aus zu Schiffe auf
dem Guadalquivir fuhr und vier Wochen verweilte, eine Syphilis-
endemie bald daranf entstand. Denn man mußte schon nach
einigen Jahren zu dem Bau eines Hospitals für die an der „west-
indischen Krankheit" Leidenden, wie es in dem von Montejo
durchforschten Hospitalarchive heißt, schreiten. Die Einschlep-
pung der Lustseuche in Barcelona, wohin sich Columbus
von Sevilla aus, auf dem Wasserwege begab d. h. also, ohne
das übrige Spanien zu berühren, ist uns ja durch Diaz de Isla
und Oviedo direkt bezeugt worden. Wir haben aber noch
einen dritten wertvollen Zeugen für die Ausbreitung der Syphilis
in Barcelona noch vor dem Feldzuge Karls VIII., in der Person
des italienischen Humanisten Nikolaus Scyllatius, der in
einem Briefe vom Juni 1495 aus Barcelona über die dort seit
längerer Zeit herrschende Syphilis-Epidemie berichtete, infolge
deren zahlreiche Einwohner erkrankt seien. Diese Epidemie
herrsche bereits weit über ein Jahr in Barcelona.
Endlich verbürgen uns viele gleichzeitige italienische Chro-
nisten, die Einschleppung der Syphilis aus Amerika auf dem
Wege über Spanien. So heißt es in den sicilischen Annalen
schon unter dem Jahre 1498, daß die Syphilis in Neapel zum
Ausbruche gekommen sei, wo sich Spanier befunden hätten, die
die Seuche von Westindien mitgebracht hätten. Senarega gibt
in seiner genuesischen Geschichte sogar genau an, daß die Syphilis
zwei Jahre vor dem Zug Karls VIIL, also 1493, in Spanien
aufgetaucht sei, wohin sie aus dem fernen Westen verschleppt
worden sei. Die zeitgenössischen italienischen Ärzte Alexander
Benedict US und Antonio Benivieni erklären gleichfalls.
- 25 —
daß die Syphilis nach Italien aus Spanien gekommen sei. Und
noch viele andere Chronisten, die ich alle in meinem Werke ver-
zeichnet habe, geben dieselbe Nachricht. Sehr bezeichnend ist
auch der Umstand, daß man sich in Italien zur Heilung der
Krankheit spanische Ärzte verschrieb, die schon etwas mehr Er-
fahrung in der Behandlung der neuen Krankheit besaßen, als die
italienischen Praktiker.
Es gibt endlich noch einen letzten, wie mir scheint, absolut
zwingenden Beweis für die Herkunft der Syphilis aus Amerika.
Wie der ganze Verlauf der Syphilisepidemie in Spanien und
Italien deutlich zeigt, daß es sich um eine von außerhalb einge-
schleppte Krankheit handelt, so wird dies durch die Betrachtung
ihrer Wanderung durch die Länder der alten Welt in der auf-
fallendsten Weise bestätigt. Überall tritt sie als eine neue
Krankheit auf und überall läßt sie sich auf eine Einschlep-
pung zurückführen. Als Resultat ergibt sich für den Bereich
des gesamten Orbis antiquus eine Einschleppung der
Syphilis von außerhalb, d. h. vom Orbis novus, aus Amerika. —
Die Ausbreitung der Syphilis in der alten Welt erfolgte mit großer
Schnelligkeit. Wir sehen dieselbe in wenigen Jahren sich in
allen Teilen Europas einnisten, bis 1500 hatte sie fast alle euro-
päischen Länder mehr oder weniger ergriffen und schon in den
ersten Jahren des 16. Jahrhunderts tauchte die Lustseuche im
fernen Ostasien auf, in China und Japan. Auch in Afrika lassen
sich Spuren einer früheren Einschleppung der Krankheit nach-
weisen.
Unter den Ursachen dieser außerordentlich schnellen Pro-
pagation der Krankheit war die allerwichtigste ohne Zweifel der
„jungfräuliche Boden", auf dem dieses furchtbare Gift so
üppig blühen und gedeihen konnte. Die Heftigkeit und Bös-
artigkeit der Krankheitserscheinungen, der im ganzen doch be-
— 26 —
deutend schnellere Verlauf als heutzutage, lehren die außerordent-
liche Empfänglichkeit der von dieser Krankheit bisher noch
nicht betroffenen Völker. Mit Recht bemerkt Professor Rudolf
Bergh, ein ausgezeichneter Geschichtsforscher und hervorragen-
der Syphilidologe : „Es geht aus den Beschreibungen der zeitge-
nössischen Verfasser hervor, daß die ersten syphilitischen Erschei-
nungen während jener Epidemie im ganzen von denen, womit
die Syphilis jetzt gewöhnlich auftritt, ziemlich verschieden gewesen
sind. Das Virus scheint damals gleichsam kräftiger gewesen zu
sein, weshalb die Ansteckung auch vielleicht leichter
stattgefunden hat; die allgemeinen Symptome scheinen früh-
zeitiger aufgetreten zu sein, noch dazu viel intensiver und ganz
besonders häufig mit bösartigem Verlaufe. Während solche ga-
loppierenden P'ormen von Syphilis heutzutage weniger vorkommen,
scheinen sie damals ganz häufig gew^esen zu sein**.
Wenn die Syphilis schon Jahrtausende bestanden hätte,
dann hätte doch im Laufe dieser langen Zeit eine so große Im-
munisierung der Völker des Orbis antiquus gegen das syphilitische
Gift eintreten müssen, daß die Ereignisse am Ende des 15. Jahr-
hunderts einfach unmöglich gewesen wären. Ist doch schon
heute, nach w^enigen Jahrhunderten bereits eine sehr deutliche
Abschwächung des syphilitischen Virus nachzuweisen.
Dieser mehr allgemeinen Ursache der schnellen Verbreitung
der Lustseuche reihen sich eine ganze Anzahl spezieller Ursachen
an. Für Europa kommen zunächst die Söldner und Lands-
knechte in Betracht, welche nach dem Feldzuge Karls VIII.
das neue Übel in alle Länder verschleppten. Wohl bei keiner
anderen Volksseuche haben diese rohen zuchtlosen Scharen eine
so verhängnisvolle Rolle gespielt, wie bei der Syphilis. Diese
Abenteurer aus allen Ländern Europas zerstreuten sich nach
Beendigung eines Feldzuges nach allen Richtungen, füllten die
Herbergen, Wirts-, Spiel- und Frauenhäuser, ergaben sich dem
Trünke und wüsten Ausschweifungen. Es ist daher kein Zufall,
daß die „zwo böse sucht*', nämlich die Syphilis und die Lands-
knechte überall zusammen auftreten, wie das in mehreren von
— 27 —
uns mitgeteilten poetischen und prosaischen Berichten der Zeit
geschildert wird. Die Söldner Karls VIII. verbreiteten die
Syphilis sehr schnell, besonders in Deutschland, der Schweiz, den
Niederlanden und Frankreich. In Deutschland blieb seitdem
Welschland verrufen als das Land, aus dem derartige Übel
meistens mitgebracht würden, und noch lange erhielt sich im
Volksmunde die Tradition von der fremden Herkunft der Syphilis.
Neben der Zerstreuung der Kriegsknechte über alle Länder
sind die Verhältnisse einer zügellosen Prostitution, die in
jener Zeit eben noch mit voller mittelalterlicher Unbefangenheit
waltete, für die außerordentliche Verbreitung der Syphilis ver-
antwortlich zu machen. Sehr drastisch und zutreffend hat der
Arzt Brassavola die Rolle der Freudenmädchen beim Aus-
bruche der Syphilisepidemie geschildert und nachgewiesen, daß oft
eine einzige hundert Männer ansteckte. Auch Haselbergk
bringt in seinem Gedicht über die Syphilis die Bordelle und
Frauenhäuser, die in geradezu verschwenderischer Zahl in allen
mittelalterlichen Städten den allezeit überaus zahlreichen Be-
suchern offen standen, mit der großen und schnellen Verbreitung
der Syphilis in Beziehung. Er zählt die berühmtesten Stätten
der Lust in deutschen Landen auf.
Die in geschlechtlichen Dingen höchst unbefangene Auf-
fassung jener Zeit verband keineswegs mit dem Begriffe der
Prostitution denjenigen der Schande, und der Besuch der Bor-
delle war ein unschuldiges Vergnügen, das sich jeder in aller
Öffentlichkeit erlaubte. Bei Festen strömten große Massen
den Frauenhäusern zu und städtische Magistrate, wie z. B. der
von Bern im Jahre 13 14, ließen es sich nicht nehmen, das kaiser-
liche Gefolge bei den „schönen Frauen im Gäßlein" frei zu halten.
In Lausanne waren selbst Geistliche Hurenwirte und drohten
durch ihre Konkurrenz die Stadtbordelle zugrunde zu richten.
Das Bedürfnis des Bordellbesuches war so groß und konnte in
so ungenierter Weise befriedigt werden, daß an manchen Orten
sogar Schuldgefangene von ihren Gläubigern wöchentlich zwei-
mal „Frauengeld** fordern durften!
— 28 —
Neben diesen beiden Hauptursachen will ich ganz kurz noch
einige andere begünstigende Faktoren für die schnelle Ver-
breitun^r der Syphilis anführen. Das waren erstens die öffent-
lichen Bäder mit ihrem zwanglosen Verkehr zwischen den Ge-
schlechtem, die Ansteckung durch unreinliche Betten, die da-
mals öfter beobachtet wurde, durch Schröpfköpfe, was z. B.
eine große Syphilisepidemie in Brunn zur Folge hatte, durch die
Unsitte des Aussaugens der Geschwüre und endlich durch die
Unkenntnis der Ärzte in der ersten Zeit, so daß die Krankheit
gar nicht oder unzweckmäßig behandelt wurde.
Begünstigt durch alle diese Verhältnisse konnte sich die
Syphilis innerhalb weniger Jahre in ganz Europa ausbreiten, und
da die Zeit ihres ersten Auftretens mit der Epoche der Ent-
deckungsreisen zusammenfiel, wurde sie, namentlich durch die
Portugiesen bald auch nach Afrika und in den fernen Osten
gebracht.
Ich habe nun im einzelnen für alle europäischen Länder
und für einen großen Teil der asiatischen, ja sogar auch für
Afrika und Australien die Einschleppung der Syphilis und bei
den meisten die Jahreszahl derselben nachweisen können. Dies
hier im einzelnen anzuführen, muß ich mir heute versagen. Auch
bedarf die Geschichte der Syphilis in jedem einzelnen Lande noch
einer eigenen Monographie. Auch für Deutschland steht dieselbe
noch aus und dürfte auch nur durch die Verbindung eines Histo-
rikers mit einem geschichtskundigen Arzt ermöglicht werden.
Ich erwähne nur, daß ich für folgende deutsche Städte und Land-
schaften die Einschleppung der Syphilis in den Jahren 1495 bis
1497 nachgewiesen habe: Bamberg, Bayreuth, Breslau, Erfurt,
Frankfurt a. M., Homburg, Hildesheim, Köln, München, Nieder-
rhein, Oldenburg und Ostfriesland, Nördlingen, Nürnberg, Prag,
Straßburg, Wien, Würzburg. Diese Liste ist von Herrn Dr.
Armin Tille inzwischen noch durch weitere Städtenamen ergänzt
worden (Deutsche Geschichtsblätter 1902, p. 314 — 320).
Bemerkenswert ist noch die Benennung der Syphilis in vielen
Ländern, die sehr deutlich die Überraschung und Ratlosigkeit
— 29 —
gegenüber der neuen Krankheit widerspiegelt. So nannte man
sie in den meisten Ländern nach der Gegend, von wo sie ein-
geschleppt worden, daher hieß sie in Spanien westindische
oder haitianische Krankheit, in Italien spanische oder fran-
zösische Krankheit, in Deutschland Franzosenkrankheit,
auch kurz „die Franzosen", „gallische Krankheit", in England
„French Pox" oder „Morbus burdigalensis" (nach der Einschleppung
aus Bordeaux), in Portugal „El mal de Castilla", in Rußland
polnische Krankheit, da sie aus Polen zuerst dahin gelangt war, in
der Türkei die fränkische, d. h. die von den Christen eingeschleppte
Krankheit, in Indien und Japan die portugiesische Krankheit, in
Nordafrika die spanische Krankheit.
Außerdem legte man ihr noch unzählige Namen je nach
den äußeren Erscheinungen, den vorzugsweise befallenen Teilen,
den supponierten Ursachen und der Verbreitung bei. Auch be-
nannte man die Syphilis vielfach nach Heiligen. Ich habe
525 Bezeichnungen der Syphilis bei den verschiedenen Völkern
im Anhange meines Buches zusammengestellt. Endlich machte
um 1520 der italienische Arzt Fracastoro dem Wirrwarr ein
Ende, indem er der Krankheit nach dem mythischen Hirten
Syphilus den ihr seitdem verbliebenen wissenschaftlichen Namen
„Syphilis" gab.
Nachdem wir so die Syphilis kennen gelernt haben als die
verhängnisvolle Gabe der neuen Welt an die alte, dargebracht
bei der ersten Berührung der beiden, bei der ersten Bildung
dessen, was wir in Hinblick auf die von der Renaissance, der
Reformation, den Entdeckungsfahrten ausgehenden geistigen Be-
wegungen und materiellen Fortschritte, als die Anfänge der mo-
dernen Zivilisation bezeichnen, nachdem wir, sage ich, gerade
in dieser Epoche die Syphilis als eine neue, dem Einzelnen und
der Gesellschaft verderbliche Seuche auftauchen sehen, haben wir
das Recht, sie als die eigentliche, spezifische Krank-
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heit der Neuzeit zu bezeichnen, welche in ihren Wirkungen
und Folgen der modernen europäischen Kultur ebenso ihr Ge-
präge aufdrückt, wie der Aussatz der mittelalterlichen Zeit. Auf
dem internationalen Ärztekongreß in Moskau 1897 hat v. Krafft-
Ebing das berühmte Wort von der innigen Verknüpfung aller
Zivilisation mit der Syphilisation ausgesprochen. Es ist das eine
Tatsache, keine Notwendigkeit.
Tief und nachhaltig hat die Syphilis den gesellschaftlichen
Zustand der Neuzeit beeinflußt, namentlich in die Verhältnisse
der Geschlechter eingegriffen, das Liebesleben von Grund aus
umgestaltet und so in dieser Bezeichnung einen tiefen Einschnitt
zwischen Altertum und Mittelalter auf der einen Seite und der
Neuzeit auf der anderen Seite gemacht.
Mit genialem Blicke hat Schopenhauer diese weltge-
schichtliche Bedeutung des Syphilis erkannt. Er sagt in den
„Aphorismen zur Lebensweisheit": „Zwei Dinge sind es haupt-
sächlich, welche den gesellschaftlichen Zustand der neuen Zeit
von dem des Altertums zum Nachteil des ersteren unterscheiden,
indem sie demselben einen ernsten, finstern, sinistern Anstrich
gegeben haben, von welchem frei das Altertum heiter und un-
befangen, wie der Morgen des Lebens dasteht. Sie sind: Das ritter-
liche Ehrenprinzip und die venerische Krankheit — par
nobile fratrum! Sie zusammen haben veixog juad q>iXia des Lebens
vergiftet. Die venerische Krankheit nämlich erstreckt ihren Ein-
fluß viel weiter, als es auf den ersten Blick scheinen möchte,
indem derselbe keineswegs ein bloß physischer, sondern auch ein
moralischer ist. Seitdem Amors Köcher auch vergiftete Pfeile
führt, i5t in das Verhältnis der Geschlechter zu einander ein
fremdartiges, feindseliges, ja teuflisches Element gekommen, in
Folge wovon ein finstres und furchtsames Misstrauen es durch-
zieht; und der mittelbare Einfluß einer solchen Änderung in der
Grundfeste aller menschlichen Gesellschaft erstreckt sich, mehr oder
weniger, auch auf die übrigen geselligen Verhältnisse,'*
Man muß bei den ewig sich wiederholenden Klagen über
die angebliche Unsittlichkeit der Jetztzeit, die auf völliger Un-
i^^r^l^H^^VW^^^^MMHHIW^B^Jtn« I J •^wvi«|'
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kenntnis der Vergangenheit beruhen, immer wieder darauf hin-
weisen , daß Altertum und Mittelalter in Beziehung auf allge-
meine Verbreitung einer skrupellosen Unzucht nie wieder über-
troflFen worden sind. Diese kolossale geschlechtliche Unsittlich-
keit der Alten war aber nur möglich, weil die Syphilis noch
nicht da war. Wenn auch die übrigen Geschlechtskrankheiten
vorhanden waren und ihre Ansteckungsfähigkeit nicht unbe-
kannt war, so muß jeder unbefangene Beurteiler zugeben, daß
deren Bedeutung gegenüber derjenigen die Lustseuche ver-
schwindet. Die naive Ungebundenheit im geschlechtlichen Ver-
kehr entsprang aus dem Nichtvorhandensein der „Geschlechtspest'S
wie man die Syphilis treffend genannt hat.
Und in der Tat sehen wir, daß das Auftreten der Syphilis
alle diese Verhältnisse von Grund aus umgestaltet hat. Seitdem
wurden die „lichten Fröwlein" des Mittelalters zu den verab-
scheuungswürdigsten Geschöpfen, die als Vermittlerinnen und Ver-
breiterinnen einer furchtbaren Krankheit für immer mit dem Kains-
zeichen gestempelt wurden. Die Syphilis war die Hauptursache
des Verfalles der mittelalterlichen Frauenhäuser. Den gleichen
Einfluß übt das Auftreten der Seuche auf das Badewesen aus.
Die früher von beiden Geschlechtern oft gemeinschaftlich be-
suchten Badestuben verödeten schon in den ersten Jahren.
Erasmus von Rotterdam erklärt geradezu, daß „der neue Aus-
schlag uns gelehrt hat, die öffentlichen Bäder zu entbehren,'* ja
die einfache Berührung mit der Hand, der Atem des Kranken
galten als ansteckend.
So rief die Syphilis, bei ihrem ersten Auftreten wie ein Alp
auf den Beziehungen zwischen den Menschen lastend, eine größere
Trennung und Absonderung derselben von einander hervor, als
die früheren Zeiten sie gekannt hatten und trug so zur Förde-
rung und Ausbreitung der geistigen und körperlichen Freiheit des
Menschen nicht unwesentlich bei. Wenn man den Charakter der
Renaissance in dem Erwachen des Individualismus gegenüber
der mittelalterlichen Gebundenheit sieht, so scheint mir die
t
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Syphilis wenigstens einen bescheidenen Anteil daran beanspruchen
zu können.
Der italienische Dermatologe Tommasoli bringt den all-
gemeinen Niedergang, der sich am Ende des 16. Jahrhunderts
auf allen Kulturgebieten bemerkbar macht, mit dem Auftreten
der Syphilis in Zusammenhang, die nach ihm damals psychische
Alterationen eingreifendster Art ausüben mußte. Wenn man die
bedeutende Einwirkung der jetzt so viel milder verlaufenden
Syphilis auf das gesamte Nervensystem in Betracht zieht, so er-
scheint diese Ansicht als sehr annehmbar. Ich erinnere nur an
die geistesschwache Deszendenz des syphilitischen Franz I. von
Frankreich. Wir wissen ja heute, daß zwei schwere Erkrankungen
des Zentralnervensystems, die Tabes oder Rückenmarksschwind-
sucht und die progressive Paralyse oder fortschreitende Lähmung
der Irren fast ausschließlich auf eine frühere syphilitische Er-
krankung zurückzufuhren sind. Besonders die letztere scheint als
eine durch die Syphilis bedingte spezifische moderne Krank-
heit gelten zu müssen, als welche sie Ibsen in den „Gespenstern'*
so ergreifend geschildert hat.
Ferner kann darüber kein Zweifel bestehen, daß der Syphilis
ein bedeutender Anteil zukommt an der modernen Degene-
ration der Individuen und Rassen, vermöge der furchtbaren
Erscheinung der Erbsyphils, welche vielleicht mehr am Marke
der Gesellschaft nagt als die erworbene Syphilis, indem sie sich
sogar auf die zweite Generation erstreckt, die, wenn auch nicht
immer direkte syphilitische, so doch lebensschwache Individuen
hervorbringt.
Die Gefahren der erworbenen und ererbten Syphilis für die
Gesellschaft sind sehr mannigfaltig, ich erwähne nur die Rolle
der Syphilis in der Ehe nebst deren Folgen (Totgeburten, Ehe-
scheidungen, Ansteckung der Amme, Unfruchtbarkeit der Ehe
u. s. w.), die Zunahme der Kindersterblichkeit, die Militäruntaug-
lichkeit syphilitisch infizierter junger Männer u. s. w.
Vor allem ist darauf hinzuweisen, daß die Syphilis durchaus
nicht immer durch den Geschlechtsverkehr sich verbreitet; ein
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nicht unbedeutender Prozentsatz in Deutschland, und 50 — 60%
der Ansteckungen in gewissen Distrikten Rußlands und der
Türkei erfolgen auf außergeschlechtlichem Wege. Es handelt
sich um die sogen. „S. insontium", um die unverschuldete An-
steckung mit Syphilis durch Berührungen mannichfaltiger Art mit
dem syphilitischem Gift, z. ß. durch Küssen (auch lebloser Gegen-
stände, wie denn in England öfter die vor Gericht zur Bekräfti-
gung des Schwures zu küssende Bibel die Übertragung der
Krankheit vermittelte), durch Speisegeräte, Befeuchten der Brief-
marken mit der Zunge, Benutzung fremder Taschentücher, Täto-
wierung, durch die Unsitte, Bleistifte in den Mund zu nehmen,
durch den Gebrauch fremder Tabakspfeifen, Blasinstrumente und
Zahnstocher, der Mundstücke in den Glasbläsereien, durch unge-
reinigte Rasiermesser u. s. w. Prof. Bergh hat alle diese und
andere Modi der unverschuldeten Ansteckung in einer kleinen
Monographie zusammengestellt
Trotz aller dieser traurigen Tatsachen dürfen wir an der
tröstlichen Hoffnung festhalten, dciß für uns soeben der fünfte
Akt des Jahrhundertdramas der Syphilis angebrochen ist, der
fünfte und letzte, Ich spreche dies nicht leichtfertig aus, sondern
ich habe meine ernsten Gründe dafür.
Erstens ist eine Abschwächung des syphilitischen Giftes,
eine gewisse Immunisierung der europäischen Menschheit gegen
dasselbe deutlich erkennbar. Im allgemeinen hat heute die Syphilis
einen relativ milden Verlauf Die wenigen schweren Fälle be-
ruhen auf einer angeborenen schlechten Konstitution, auf
Alkoholismus, auf grober Vernachläßigung und unge-
nügender Behandlung. Das Fortschreiten dieser Immunisie-
rung ist auch in dem sogenannten Profetaschen Gesetze er-
kennbar, d. h. in der Tatsache, daß Kinder syphilitischer Mütter,
ohne selbst zu erkranken, gegen Syphilis immun sind. Auch noch
andere Erscheinungen, auf die ich hier nicht eingehen kann,
sprechen für die Existenz einer Immunität gegen Syphilis, an
welcher wohl auch die starke Merkurialisierung der früher
durchseuchten Generationen einen gewissen Anteil hat Denn das
Bloch, Syphilis. 3
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Quecksilber ist und bleibt deis mächtigste, zuverlässigste, sicherste
Mittel gegen die Syphilis, es ist für diese das, was das Wasser für
das Feuer ist. Dies sagen nicht die St. Germains und
Cagliostros in der Medizin, sondern die Erfahrung sehr ob-
jektiver, genau beobachtender Arzte hat es in Jahrhunderten zur
Evidenz bewiesen.
Weiter eröffnet sich in der planmäßigen Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten, die seit wenigen Jahren in allen
zivilisierten Staaten Europas begonnen hat, die Aussicht auf eine
baldige Einschränkung der Verbreitung der Syphilis. Aufklärung
der Einzelnen auf der einen Seite, zweckmäßige Maßregeln zur
Eindämmung und Sanierung der Prostitution auf der anderen
Seite müssen sich verbinden, um den gewünschten Erfolg herbei-
zuführen. Mit Recht bemerkt Dr. Ströhmberg in seinem vor-
trefflichen Werke über die Bekämpfung der Geschlechtskrank-
heiten (Stuttgart 1903, p. 27), daß ohne den außerehelichen Ge-
schlechtsverkehr in einem Kulturlande wie Deutschland die Syphilis
nach wenigen Generationen spurlos verschwunden sein
werde.
Da wir neuerdings auch in die Kolonialpolitik eingetreten
sind, so mag bemerkt werden, daß diese in betreff der Syphilis
wenigstens die große Gefahr einer neuerlichen Verstärkung des
syphilitischen Virus mit sich bringt. Es ist erwiesen, daß die
syphilitische Ansteckung, die ein Weißer sich bei Negern oder
Mongolen zuzieht, eine viel intensivere Erkrankung zur Folge
hat und einen maligneren Verlauf der Syphilis, als wenn er in
bezug auf den Geschlechtsverkehr innerhalb der eigenen Rasse
bleibt. So teilt mir Herr Prof. Balz in Tokio mit, daß die
Europäer sich in Japan meist eine sehr bösartige Syphilis zu-
ziehen, und von dem größten Kolonialvolke, den Engländern,
sagt der Prager Dermatologe Pick, daß die Syphilis ihr zer-
störendes Prinzip zu zwei-, drei- und vierfach stärkeren Dosen in
ihr Blut mische, als bei den anderen Nationen. Hier droht also die
Gefahr einer Verzögerung der fortschreitenden natürlichen
Immunisierung gegen das syphilitische Gift.
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Deshalb wäre eine Beschleunigung dieses Prozesses durch
die Anwendung künstlicher Mittel sehr willkommen. In
neuester Zeit hat Metschnikoff aussichtsvolle Experimente über
eine künstliche Immunisierung gegen Syphilis angestellt, die jeden-
falls die Hoffnung nahe rücken, daß wir noch vor Ablauf des fünften
Jahrhunderts ihrer europäischen Existenz die Syphilis, deren all-
mähliches Abnehmen und Erlöschen schon Marx vor 70 Jahren
prophezeite, vertilgt haben werden. Virchow, der ja einer der
vorsichtigsten Naturforscher war, hat ebenfalls seine Ansicht
dahin ausgesprochen, daß Syphilis und Mensch nicht un-
trennbar sind und daß es gelingen werde, diese zwei Wesen,
die so lange vereinigt waren, auseinander zu bringen.
Nein, die Ausrottung der Syphilis ist ganz gewiß keine Utopie.
Die Krankheit geht nur von Mensch zu Mensch, sie erzeugt sich
nicht aus sich selbst, hat keinen selbständigen Produktionsherd,
und deshalb muß und wird sie eines Tages verschwinden.
Druck von Ant. Kämpfe in Jena.
mmaBBK^mBmm
''^ß^a^tmmmt/^^'^^^^m
<'.
VERLAG VON GUSTAV FISCHER IN JENA,
Weitere Urteile der Presse über „Bloch, Ursprung der Syphilis".
Monatshefte fttr praktische Dermatologie, Bd. XXXIV, 1902:
Es ist sehr erfreulich, dass das medizinisch-historische Rätsel der großen
S3rphilisepidemie vom Ende des 15. Jahrhunderts immer von neuem Historiker und
Aerzte zu einem eingehenden Studium jener denkwürdigen Epoche veranlaßt. Das
vorliegende Werk eines noch jungen , aber ungemein belesenen imd schaffensfreudigen
Autors ist aber mehr als die Inangriffnahme und gelegentliche Bearbeitung eines an
und für sich reizvollen und dankbaren medizinisch-historischen Themas. Es ist die
allmählich zu einer Notwendigkeit gewordene, ernste Antwort auf die Behandlung der-
selben Frage in dem 1895 erschienenen großen Werke von Proksch, Geschichte der
venerischen Krankheiten. . . . Dieser Teil des Blochschen Werkes, welcher gleich-
sam zum erstenmale die dunkle Kehrseite der Entdeckung Amerikas in eine grelle
Beleuchtung rückt, ist nicht nur für jeden Historiker interessant und wertvoll, sondern
für jeden denkenden Arzt und Hygieniker ein hochwichtiges Elapitel und sichert dem
Werke allein den Dank aller, welche sich für die Geschichte, das Entstehen und Ver-
gehen der Krankheiten interessieren. ... (Unna.)
JonrnaL MMical de Broxelles, 23 Jan vier 1902, No. 4:
ün beau livre , bien 6crit , bien pens6 , bäti avec m6thode et clart6 , et qui
m6rite plus qu*une simple notice. Aussi ai-je cru bien faire, en en tirant les lignes
qui vont suivre, d'en donner une image rMuite, aussi fid^le que possible. . . . Son
livre ne s'adresse pas seulement au medecin, mais aussi ä l'historien, k Tethnographe ;
c'est ime contribution k l'6tude de la civilisation humaine en meme temps qu'un
chapitre pour l'histoire de la medecine.
. . . Nous allons le suivre dans sa belle et savante description en cherchant
ä serrer le texte du plus pr6s que nous le pourrons. (Bayet.)
Deutsche Medizin. Wochenschrift, Nr. 51 vom 19. Dezember 1901 :
, . . Der Verfasser geht mit der Genauigkeit und der Vorsicht eines Geschichts-
forschers von Fach zu Werke. Keine Behauptung bleibt ohne Beleg , und alles, was
von schriftlichen Belegen auf uns gekommen ist, wird mit sachlicher Kritik herange-
zogen und je nach seinem inneren Gehalt verwertet. Dabei unterscheidet sich das
Buch vorteilhaft von manchen wissenschaftlich-geschichtlichen Schriften durch seine
Lesbarkeit. Nicht mit Unrecht hat man der deutschen Geschichtsschreibung oft genug
vorgeworfen, bei aller Gelehrsamkeit, W^ahrheit und Tiefe sei sie vielfach so lang-
weilig, daß das Durchlesen eines ihrer Werke von A bis Z eine Art Kasteiung dar-
stelle. Das ist hier besser. Die klare Sprache, die gefällige Form und die Durch-
mischung notwendig trockener Erörterungen mit interessanten Ciiaten und Beigaben
machen das Buch lehrreich und angenehm zugleich. Die heutige medizinische Gene-
ration hat nur geringe Hineigung zu der Geschichte ihrer Wissenschaft und deren An-
wendung; alles strebt nach vorwärts und findet keine Zeit, zurückzuschauen auf die
wilden und verworrenen Wege, die unsere Vorfahren erst durchkämpfen mußten, ehe
wir die freie Luft um uns her und den freien Blick auf das Errungene zu genießen
vermochten. Wer das Buch von Bloch gelesen hat, wird mit dem Referenten den
Wunsch hegen, es möge die Aufmerksamkeit aller Mediziner finden, die sich noch
ein wenig historischen Sinn bewahrt haben, und es möge diesen Sinn bei denen
wecken, die ihn bis zur Erstarrung einschlafen ließen. (Binz.)
Rivista Bibliografica:
L*argomento ha inspirato al dott. Iwan Bloch un libro veramente
interessante nel quäle si collegano e si intrecciano le cognizioni di me-
dicina a quelle di storia, di geografia, di antropologia; un libro denso
di indagini, ricco di notizie e di documenti, scritto con mirabile chia-
1 w Z 2tf A* • • •
Bolletino delle malattie yeneree etc. 1902, Nr. 1:
E un' opera piena di erudizione, frutto di laboriose e diligenti ricerche, degna
del piü alto interesse per gli Studiosi di sifilografia. . . .
Fortsetzung" auf Seite 4 des Umschlags.
/
VERLAG VON GUSTAV FISCHER IN JENA.
Weitere Urteile der Presse über „Bloch, Ursprung der Syphilis."
Berliner Kliiusche Wochenschrift Nr. 31 vom 4. Altgust 1902:
Blochs Arbeit hebt sich weit über das Niveau derjenigen Schriften heraus,
* welche bisher über diese specielie Frage veröffentlicht sind, und, gleichviel ob man
sich zu seiner Ansicht bekennt, seinen Beweis als gelungen ansieht oder nicht — und
an Hart- und Trotzköpfen , die, wie Ref. argumentieren : ubi "Venus, ibl Syphilis, also
auch im Altertum schon Syphilis , wenn auch nicht beweisliräftig beschrieben , an-
nehmen, wird es nach wie vor nicht fehlen — die Art, wie Bloch sein Problem er-
faßt und behandelt hat, und das Ergebnis, zu dem er gelangt ist, wird und muß Auf-
sehen errege^i und ist geeignet, wenn auch nicht ohne weiteres alle Anhänger des
Dogmas von der AltertumssyJDhilis wankend zu machen , so doch die Diskussion von
neuem zu entfachen, und in ein anderes Fahrwasser zu lenken, für die Bloch eine
große, unübersehbare Reihe sehr wirksamer und bestehender Argumente ins Feld
führt. Leider kann hier auf Einzelheiten nicht eingegangen werden, aber es muß im
Interesse der Wahrheit und Objektivität betont werden, daß Bloch mit einer für
einen jungen Forscher, wie er, besonders anerkennenswerten Gründlichkeit und
kritischen Fähigkeit die in Betracht kommenden Quellen von neuem gemustert,
die bisherigen Nächrichten geprüft, eine Reihe von Irrtümern berichtigt und als
Parergon zugleich sehr interessante und ganz neue Mitteilungen über ältere Syphilis-
forscher, Nomenklatur der Syphilis u. v. a. geliefert hat. Das allein stempelt Blochs
Arbeit zu einer markanten und für die beregte Frage unbedingt zu einer bahnbrechenden,
die nicht nörgelnde Rüge kleinerer Versehen , sondern als Ganzes Respekt verdient.
Den negativen Teil, d. h. die Kritik der Lehre von der Altertumssyphilis, wird Bloch
in einem besonderen Bande bringen. Blochs von der ersten bis zur letzten Zeile flotl,
frisch, anregend und fesselnd geschriebenes Buch wird auch ohne unsere Empfehlung
seinen schnellen Gang durch die Welt antreten ; denn die Syphilis ist eine Affekdon,
um die man sich in der ganzen Welt kümmert, und die Frage, die Bloch behandelt
und entschieden zu haben glaubt, interessiert, obwohl sie eine rein historische ist, auch
sachlich mit Recht ungemein. (Pagel).
Dermatologische Zeitschrift, Bd. VIII, Heft 6:
. . . Mag man über diesen oder andere Einzelpunkte der Auffassung abwei-
chender Meinung bleiben, so wird jeder Leser dieses Werkes von der umfassenden
Gelehrsamkeit und der vorurteilslosen Kritik eine hohe Meinung davontragen. Ausge-
stattet mit der gediegenen Kenntnis gesamter moderner Wissenschaft und geschult im
Verständnis historischer Quellenforschung, bietet Bloch eine glänzende geschichtliche
V Beleuchtung, fußend auf einer weit ausschauenden und mit jeder bemerkenswerten
Einzelheit vertrauten kulturgeschichtlichen Untersuchung. Dabei keinerlei Abschweifung,
sondern die Einheitlichkeit derjenigen Auffassung, welche die Beziehung der Syphilis
zu dem Boden , auf welchen sie sich entwickeln konnte, scharf im Auge behält. Das
Buch bildet eine willkommene Fundgrube für Lehrer und Studierende, für Aerzte und
Forscher. Jedenfalls ein groß angelegtes Ergebnis historisch -geographisch-pathok^ischer
Forschung, ruhend in medizinischer und allgemeiner Gelehrsamkeit, auf dessen weitere
Fortsetzung wir mit Spannung* harren dürfen. (Lassar.)
Auch die Historiker vom Fach sowie Privatdozent Dr. H. Oncken in
„Historische Zeitschrift" 1902 und Dr. A. Tille in „Deutsche Geschichts-
blätter" 1902, Heft 11/12, haben sich in der gleichen anerkennenden Weise über das
obige Werk ausgesprochen.
^NT. |<.AMPrS, ^UCHURUCKBRkil, jlitMA.